Wie du vielleicht auch, wurde ich in meiner Jugend mit den spannenden Justizthrillern von John Grisham sozialisiert. Eine Zeitlang habe ich diese Art von Romanen sehr gerne und intensiv konsumiert.
Sie alles hatten Eines gemeinsam: die Autoren und die meisten Protagonisten waren Männer. Anwältinnen oder gar Richterinnen selten oder gar nicht vorhanden.
Das ist mittlerweile viele Jahre her, und einiges hat sich verändert. Die Vorherrschaft im Gerichtssaal und in der Gesetzgebung ist allerdings noch immer fest in männlicher Hand.
Suzie Miller thematisiert in „Prima facie“ nicht nur diesen sexistischen Missstand und seine Folgen sondern auch das ungebrochene und elitäre Klassensystem, das sich im englischen Justizwesen hartnäckig hält.
Millers Protagonistin Tessa Ensler hat den schwierigen Aufstieg aus der Arbeiterklasse in dieses abgeschottete System geschafft. Tessa ist eine junge, sehr erfolgreiche Strafverteidigerin in einer renommierten Anwaltskanzlei.
Oberflächlich hat es den Anschein, als hätte sie die tiefe gesellschaftliche Kluft überwunden, die ihre einfache Herkunftsklasse von der elitären, reicheren Schicht Englands trennt.
Aber natürlich ist der Klassenunterschied immer noch da. Im Tessa Alltag lauert er überall.
Sexistisch und elitär
Auch der omnipräsente Sexismus ist mittlerweile subtil versteckt und Tessa kann ihn Gerichtssaal zu ihrem eigenen Vorteil nutzen, wenn sie von der gegnerischen Partei unterschätzt wird.
Aber wie sexistisch und misogyn das Rechtssystem und die Gesellschaft, die es hervorbringt, wirklich ist, erfährt Tessa in voller Breite, als sie selbst um Opfer wird.
„Mir kommt ein furchtbarer Gedanke, den ich bisher nicht in Betracht gezogen habe. Dass sexuelle Belästigung in Wirklichkeit vielleicht etwas ist, womit wir alle zumindest schon einmal in Berührung gekommen sind, und viele sich nicht eingestehen wollen, dass ihre eigenen Erfahrungen womöglich genauso schlimm waren wie der Fall, den sie vor sich haben.“
Tessa ist eine Kämpferin und will die Zustände so nicht hinnehmen, in ihrem Glauben an ein gerechtes System beschließt sie zu kämpfen…
„Prima facie“ ist super geschrieben und fesselt mich ab Seite Eins! Auch thematisch kann er mich auf voll und ganz überzeugen, es gab für mich aber auch ein kleines Manko…
…denn die Story ist für mich zu jedem Zeitpunkt vorhersehbar. Ich ahne bereits beim Lesen des Klappentextes den Verlauf des Plots und so ist es dann auch. Auch die Zahlen und Fakten, die hinter dem fiktiven Fall stecken, sind mir ausreichend bekannt. Sie sehen in Deutschland (leider) ähnlich niederschlagend aus. Eigentlich können die sexistischen Nachteile in der Rechtsprechung und die Machtlosigkeit von Opfern niemanden mehr überraschen, der sich auch nur oberflächlich mit der Thematik beschäftigt hat.
Was die Kampfansage, die im Kern des Romans steckt, natürlich umso notwendiger macht!
Von daher gibt es für diese Vorhersehbarkeit von mir keine Abminderung meiner Leseempfehlung. Ein Must-read für feministisch interessierte Leser*innen.
Außerdem gefallen mir die Insights in das britische Justizsystem ungemein. Wer so wie ich, gerne Gerichtsromane liest, bekommt hier das volle Paket.
Gesellschaftskritisch, unterhaltsam und lesenswert!
Aus dem Englischen von Katharina Martl
Ein großes Dankeschön an den Kjona Verlag und Kirchner Kommunikation für das wunderschöne Rezensionsexemplar von „Prima facie“!
P.S. Thematisch ähnlich und im gleichen britischen Gerichtsmilieu spielt die Serie Netflix Serie „Anatomie eines Skandals“, die ich als sehr sehenswert empfand.
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