Was von meiner Mutter bleibt von Marlen Hobrack
Als die Mutter von Marlen Hobrack überraschend an den Folgen einer atypischen Lungenentzündung stirbt, ist ihr Körper von den Jahrzehnte schwerer Arbeit gezeichnet. Sogar in einem Alter, in dem andere bereits in Rente sind, hatte Hobracks Mutter trotz Rheumas noch weiter körperlich gearbeitet.
Warum hinterlässt sie ihren Kindern dann nach ihrem Tod und einem Leben voller Arbeit keine Ersparnisse, sondern eine unübersichtliche Zahl an unbeglichenen Rechnungen und Schulden?
Die 70qm Wohnung von Hobracks Mutter bis obenhin vollgestopft und überwuchert mit kaum benötigten Konsumgütern, manche noch originalverpackt.
Nach ihrem Tod übernimmt ihre Tochter die Auflösung des Haushaltes. Wie eine Archäologin trägt Hobrack Schicht um Schicht ab um zu den Ursachen der Kaufsucht ihrer Mutter vorzudringen.
„Deshalb ist dieses Buch auch das: Arbeit an der Mutter. Es ist der Versuch, meine Mutter zu bergen, zu ihrem Kern vorzudringen, der in oder unter dem Hort verborgen ist.“
Denn Hobracks Mutter war ein Hoarder, eine Hortende. Der deutsche Ausdruck „Messie“ evoziert mittlerweile vielleicht ein falsches Bild der Zwangspektrumstörung, die durch das Ansammeln mehr oder weniger wertloser Gegenstände im eigenen Wohn- und Arbeitsumfeld und der Unfähigkeit, diese Gegenstände auszusortieren, um Ordnung zu halten, gekennzeichnet ist.
Das Wort „Hort“ in seinen verschiedenen Implikationen kommt in Hobracks Buch eine wichtige Bedeutung zu. Sie recherchiert die psychologischen Hintergründe des Hortens und wie weit sie auf ihre Mutter zutreffen. Ist das Bedürfnis ihrer Mutter nach Konsum vielleicht eine nachträgliche Folge aus den Konsumbeschränkungen der DDR? Ein horten aus Angst vor erneutem Mangel und Rationierungen?
Immer wieder kommt dabei das Thema Klasse zur Sprache. Wie auch schon in ihren Bücher „Klassenbeste – wie Herkunft unsere Gesellschaft spaltet“ oder aktualisiert „Was von der Arbeit meiner Mutter übrig bleibt“ und „Klassismus“ analysiert Hobrack ausgehend von ihren biografischen Erfahrungen, wie Herkunft Menschen an ihre soziale Klasse bindet.
In „Erbgut“ stößt Hobrack während des monatelangen Entrümpelungsprozess immer wieder auch auf die Frage, wieviel von ihrer Mutter auch in ihr selber steckt. Wieviel in ihrem Leben von ihrer Mutter vererbt wurde.
Und unter den Schichten immer die Beziehung zu ihrer Mutter, die sehr eng und liebevoll war. Manchmal zu eng. Später wird Hobrack realisieren, dass auch das bewusste und verzögerte Ausräumen der Wohnung ein Versuch war, die Mutter festzuhalten.
Ich merke, wie ich während des Lesens meine eigene Haltung zu meinen Besitztümern und zu meinem Konsum hinterfrage. Ich neige nicht zum horten und sammeln, aber liebe gleichzeitig den vergänglichen Konsum. Inwieweit steht das in Zusammenhang mit meiner Herkunft, Prägung und Klasse?
„Erbgut“ war für mich ein sehr bereicherndes Buch, das mich stark zum Nachdenken anregte, aber auch mit einer sehr persönlichen Geschichte über eine Mutter-Tochter Beziehung, die mich berührt hat.
Definitiv eine Leseempfehlung von mir!
Vielen Dank an Harper Collins für das gewünschte Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Marlen Hobrack für ihr neues Buch!
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