Ich denke öfter, dass meine eigene Familie schlecht funktioniert und ich als Elternteil absolut ungenügend bin. Um mich besser zu fühlen und um andere, noch kaputtere Menschen zu erleben, schalte ich als Literaturliebhaberin keinen privaten Fernsehsender ein, sondern greife zu entsprechenden Romanen.
Und „Je tiefer das Wasser“ ist dafür bestens geeignet, denn eine dermaßen dysfunktionale Familie lässt meine eigene wie aus der Rama Werbung erscheinen.
Dieser Roman bietet aber viel mehr als voyeuristisches Vergnügen, er ist große und tiefgründige Literatur!
Im Mittelpunkt stehen die unterschiedlichen Schwestern Edie und Mae, die Apekina jeweils im Wechsel aus der Ich-Perspektive erzählen lässt. Die Handlung setzt nach dem Selbstmordversuch ihrer Mutter ein, als beide von ihrem ihnen unbekanntem Vater, eine Schriftstellerikone, nach New York geholt werden.
Während Mae sich gut in die neue Situation einlebt und froh ist, aus der psychotischen Umklammerung ihrer Mutter zu entkommen, rebelliert Edie gegen den verhassten Vater.
Die Schwestern entwickeln sich in unterschiedliche Richtungen und entfernen sich voreinander. Beide entwickeln verschiedene, sehr ungesunden Obsessionen und versuchen ihre Realität zu verändern.
Zwei Perspektiven – zwei Wahrheiten?
Apekina beschreibt sehr eindringlich, wie die beiden schon als Kinder durch die Psychosen ihrer Mutter und durch den Narzissmus ihres Vaters schwer beschädigt sind.
Auch jetzt in dieser entscheidenden Entwicklungsphase der Jugend bekommen die Schwestern kein stabiles Umfeld, sondern werden mit ihren Problemen hauptsächlich sich selbst überlassen. Ihr Vater ist mit seinem Romanprojekt und seinen Liebschaften beschäftigt und nutzt die Orientierungslosigkeit seiner Tochter Maes auf moralisch verwerflichste Art aus.
Apekina hat ihren Roman unglaublich geschickt und spannend konstruiert, denn sie lässt nicht nur die beiden Schwestern zu Wort kommen, sondern auch andere Figuren erzählen ihre Version der Geschichte. Manche Kapitel bestehen aus Briefen aus der Vergangenheit, die weiteres Licht auf die toxische Beziehung der Eltern wirft. Sie ist der Ursprung und Ausgangspunkt für die späteren Probleme der beiden Schwestern.
Missbrauch, Vernachlässigung und Abhängigkeit in absolut ungesunder Kombination. Und immer wieder glitzert zwischen dem Unrat etwas anderes: Kunst, Hoffnung und die Andeutung von Zärtlichkeit.
Ich fand den Roman wahnsinnig faszinierend in seiner Komplexität und in der Kunst von Apekina sowohl die Deutung als auch die Handlungsstränge in der Schwebe zu halten. So ist auch der Schluss eine meisterhafte Momentaufnahme. Es ist die Sekunde vor dem möglichen Sprung ins tiefe Wasser.
Ein literarisches Highlight und eine unbedingte Leseempfehlung!
Der Debütroman von Katya Apekina erschien 2021 beim Suhrkamp Verlag und ist mittlerweile auch als Taschenbuch erhältlich.
Aus dem amerikanischen Englisch von Brigitte Jakobeit.
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