Fatih Çevikkollu ist Schauspieler und als preisgekrönter Comedian und Kabarettist bekannt.
Mit „Kartonwand“ hat er sein erstes autobiografisches Buch geschrieben.
Es setzt sich mit seiner Herkunft als Sohn türkischer Eltern, die in den 60er Jahren als Arbeitsmigranten nach Deutschland kamen, auseinander.
Auslöser für Çevikkollus tief gehende Auseinandersetzung mit der eigener Prägung und dem distanzierten Verhältnis zu seinen türkischen Wurzeln und dem Rest seiner Ursprungsfamilie, ist der Tod seiner Mutter.
„Meine Mutter war psychisch krank.“
Çevikkollus Mutter wird mit zunehmenden Alter psychisch immer auffälliger. Mehrmals verwendet Çevikkollus in seinem Buch den Ausdruck „nicht gesellschaftsfähig“. Die Familie vermutet eine Psychose. Aber eine Behandlung oder Diagnose wird von der Mutter vehement abgelehnt.
Als die Kinder älter und selbständig sind, zerbricht die Ehe von Çevikkollus Eltern unter der Last der immer schlimmer werdenden Realitätsferne und der Gewalttätigkeit der Mutter.
Ihre letzten Jahre wird Çevikkollus Mutter in der Türkei einsam und in Isolation verbringen. Nach dem Tod seiner Mutter beschäftigt Çevikkollu die Frage:
„Wie viel an ihrer Krankheit ist individuell, und wie sehr hängt sie mit der Situation zusammen, in der sie sich jahrzehntelang befand?“
Als Arbeitsmigrant*innen zogen Çevikkollus Eltern in den 60ern nach Deutschland, wo sie als Arbeitskräfte dringend gebraucht wurden. Der Vater findet schnell eine Arbeit bei Ford und ist oft abwesend. Die Mutter, in ihrer Heimat eigentlich eine gut gestellte Grundschullehrerin, verliert in Deutschland komplett ihren sozialen Status. Sie ist alleine für Haushalt und Kindererziehung zuständig. Sie wird nie richtig Deutsch lernen.
Fatih Çevikkollu spricht mit Verwandten und Expert*innen, um den Anfängen und den Ursprüngen der geistigen Krankheit seiner Mutter auf die Spur zu kommen. Während die Familie seiner Mutter hauptsächlich dem Vater die Schuld gibt, sieht Çevikkollu komplexere Ursachen.
Hat jemand Schuld?
Die psychischen Belastungen, die die Familie nach der Migration erleben mussten waren immens. Sie konnten nur mit dem Glauben an eine zeitliche Begrenzung ertragen werden. Die Rückkehr in die Türkey nach einigen harten Jahren des Geldverdienens als kurze Lebensphase, für die Entbehrungen und sogar zeitweise die Trennung von den eigenen kleinen Kindern ertragen werden musste.
„Das Ziel im Leben war die Rückkehr.“
„Alles Schöne und Wertvolle wurde aufgespart.“
– in Kartons, die in einer Kartonwand stehen und für ihren Benutzung in der Türkei aufgespart werden.
Der Glaube an eine Rückkehr stellt sich, wie bei vielen Arbeitsmigrant*innen, als eine Lebenslüge heraus.
Ein aufgeschobenes, verlorenes Leben, wie Çevikkollus Vater selbst im hohen Alter resigniert und enttäuscht feststellt.
Mich hat Fatih Çevikkollu Text sehr berührt, v.a. seine ehrliche Auseinandersetztung und Aufarbeitung mit seinen eigenen Verletzungen, die er durch diese Kindheit davongetragen hat.
Sehr offen beschreibt er, wie sich das Trauma seiner Eltern auch auf seine eigene Elternschaft und seine Beziehungen auswirkt.
Einiges in Çevikkollus Buch erinnert mich an „Unser Deutschlandmärchen“. Während mich Dinçer Güçyeter mit seiner großen literarischen und emotionalen Kraft unglaublich berührt hat, schätze ich bei Fatih Çevikkollu die mit Zahlen und Expertenwissen angereicherte Mischung aus autobiografischen Bericht und fachlichen Hintergrundinformationen.
„Kartonwand“ ist sehr lesenswert und universell wertvoll für mehr Aufmerksamkeit auf die besondere psychische Belastung von Migrant*innen und das mangelnde Hilfsangebot.
Aber auch für die Aufarbeitung von individueller und gesellschaftlicher Historie.
Erschienen 2023 im Kiwi Verlag.

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