Der Roman „Geliebte Mutter – Canım Annem“ ist die Geschichte von Meryem, ihrem Bruder Ada und ihren Eltern Aynur und Alvin. Und es ist die Geschichte einer auf Gewalt und Zwang gegründeten Familie, die alle ihre Mitglieder zu gebrochenen Menschen gemacht hat.
Es ist Meryem, die die Geschichte erzählt, manchmal kommentiert sie aus der Ich-Perspektive, aber meistens blickt sie aus der auktorialen Erzählsicht auf die Figuren. Sie erzählt die Geschichte ihrer Mutter Aynur, die in Instanbul von ihrem Bruder mit Alvin verheiratet wird und dann mit ihrem Mann nach Deutschland gehen soll. Die Ehe beginnt in der Hochzeitsnacht mit einer Vergewaltigung. Alvins Gewalt wird die über 50 Jahre dauernde Beziehung prägen.
Meryem beschreibt wie die andauernden Erniedrigungen und Schläge ihre Mutter verändern, wie das Leben in Deutschland nicht die ersehnte Arbeit und den Wohlstand bringt und wie sie und ihr Bruder Ada unter der toxischen Familiensituation leiden.
In dem Klima der Gewalt und der Desillusionierung gibt es wenig Platz für Liebe und Geborgenheit, auch die Mutter ist hart, hat hohe Leistungsanforderungen an Meryem und Ada.
“Canım, ich will euch nur beschützen, damit ihr nicht so endet wie wir. Ich will euch auf das Leben vorbereiten. Ihr müsst lernen, ihr müsst fleißiger sein als alle anderen. Ich schlage euch nur, weil ich euch liebe.“
Warum hat Aynur ihren Mann nicht einfach verlassen? Warum hat sie ihr Kinder Meryem und Ada nicht geschützt?
Was ist Freiheit?
Als Erwachsene gehen Meryem und Ada ganz unterschiedlich mit den Wunden und dem Trauma aus ihrer Kindheit um. Ada hat den Kontakt ganz abgebrochen und sich ein eigenes Leben aufgebaut. Meryem ist beruflich erfolgreich, reist viel und lebt für eine gewisse Zeit in Istanbul.
Als der verhasste Vater im Sterben liegt, gibt es die Möglichkeit sich als Familie wieder anzunähern. Aber ist das bei so tiefen Verletzungen möglich?
“Den Toten kann man nur noch verzeihen, sonst würde die Bitterkeit für immer wie Sand zwischen den Zähnen knirschen.”
Çiğdem Akyol ist Journalistin, Reporterin und Autorin. Ihre Sachbücher über Erdoğan wurden mit mehreren Preisen ausgezeichnet. „Geliebte Mutter“ ist ihr erster Roman und somit auch der erste Text, den ich von Akyol lese, und er hat mich sehr bewegt.
Ich vermute einen gewissen autofiktionalen Anteil in ihrem Roman, denn Akyol ist, ebenso wie ihre Protagonistin Meryem, Tochter von türkischen Gastarbeitern und in Herne aufgewachsen.
Genauso wie andere Romane zum Thema Postmigration wie „Unser Deutschlandmärchen“ von Dinçer Güçyeter oder „Kartonwand“ von Fatih Çevikkollu thematisiert Çiğdem Akyol die gesellschaftlichen und sozialen Faktoren von Arbeitsmigration, und beleuchtet deren Auswirkungen auf die Dynamiken in der Kernfamilie.
“Mutter, auch wenn Du uns immer Freiheit gewünscht hast, das Leben eines Einwandererkindes ist vorgezeichnet. Ständig überlegen wir, was wir unseren Eltern zurückgeben können. Wir wollen aufsteigen, damit Ihr stolz auf uns sein könnt.”
Ich finde Akyols Schreibstil literarisch äußerst ansprechend und sehr gelungen. Gerade die Passagen, die direkt aus Meryems Ich-Perspektive geschrieben sind, entwickeln eine große emotionale Kraft, die wahrscheinlich niemanden unberührt lässt.
Es ist eine Geschichte, die mir unter die Haut kriecht und in meinem Herzen Trauer hinterlässt.
Leseempfehlung!
Vielen lieben Dank an den Steidl Verlag für das wunderschöne und hochwertige Rezensionsexemplar. Danke und viel Erfolg an Çiğdem Akyol für den Roman!
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